2024: Das Jahr, in dem die neue Erzählung Form annahm – von der systemischen Erschöpfung zum Re:Growth
Ein Jahresrückblick der Initiative Regenerative Marktwirtschaft
Autor: Sebastian Fittko
Wenn wir auf das Jahr 2024 zurückblicken, sehen wir ein Jahr intensiver Begegnungen – von Witten über Bielefeld und Münster bis hin zu den Feldern des Gut Haidehof. Doch unter der Oberfläche all dieser Salons und Workshops lag eine tiefere Zielsetzung: Wir haben in diesem Jahr an der Erzählung, die anschlussfähig und undogmatisch erklärt, warum die Transformation hin zu einer regenerativen Wirtschaft nicht nur eine ökologische Notwendigkeit ist, sondern ein unternehmerischer Imperativ.
Wir haben den Begriff des Regenerativen Unternehmertums, den ich seit Anfang 2023 verwende und zu prägen versuche, mit Leben gefüllt und in ein Gesamtbild eingebettet, das tragfähig ist.
Was dabei entstanden ist, ist mehr als eine Theorie. Es ist eine Einladung, Wirtschaft neu zu denken – und neu zu machen. Hier ist die Geschichte, die wir gemeinsam geschrieben haben.
1. Was ist eigentlich ein „Gutes Leben“?
Die Reise zu diesem Narrativ verdichtete sich unter anderem beim 27. Wittener Kongress für Familienunternehmen. Gemeinsam mit Julia Ledermann und Nikolas Oetker gingen wir in unserem Workshop der Frage nach, wie der innere Antrieb, ein gutes Leben zu gestalten, uns zu regenerativen Unternehmer:innen macht.
Wir diskutierten, warum gerade Familienunternehmen mit ihrer transgenerationalen Ausrichtung die Schlüsselakteure für einen neuen Wohlstand sind. Es wurde deutlich: Wer eine positive Zukunft für sich, sein Unternehmen und die Gesellschaft schaffen will, definiert Erfolg nicht primär über Kontostände. Ein gutes Leben besteht aus einem intakten sozialen Umfeld, aus Gesundheit, aus der Möglichkeit zur persönlichen Entfaltung und Selbstwirksamkeit, aus Zeit, Frieden, Sicherheit und einer lebendigen Natur.
Doch wir leben in einer Welt, die Erfolg fast ausschließlich am finanziellen Wert misst. Wir haben ein Wirtschaftssystem gebaut, das die Mittel (Geld) mit dem Zweck (Leben) verwechselt.
2. Die 8 Formen des Kapitals: Eine Bestandsaufnahme
Um dieses Missverhältnis zu korrigieren, haben wir das Modell der 8 Kapitalformen in den Mittelpunkt unserer Arbeit gestellt. Unser wahres Vermögen – als Individuen, als Unternehmen und als Gesellschaft – ist ein Ökosystem aus:
Den lebendigen Kapitalien: Soziales, Kulturelles, Intellektuelles, Erfahrungskapital, Spirituelles (Sinn) und Natürliches Kapital.
Den nicht-lebendigen Kapitalien: Finanzielles und Materielles Kapital.
Zu Beginn des industriellen Zeitalters war die Welt reich an Naturkapital und sozialen Bindungen, aber verhältnismäßig arm an finanziellem und materiellem Kapital. Durch die Nutzung fossiler Energie (exogene Energie) ist es uns gelungen, menschliche Arbeit zu substituieren und die Produktivität ins Unermessliche zu steigern. Wir verdanken dieser Ära Innovationen, Mobilität und materiellen Wohlstand, der ohne diese günstige Energie undenkbar gewesen wäre.
Weiterlesen im Essay: Raus aus der Blase rein in den regenerative Frühschoppen
3. Die Falle des „Uneconomic Growth“: Wachstum durch Degrowth
Dieses fossile extraktive Wachstum wurde zum Imperativ unserer Gesellschaft (Stephan Lessenich, Die Externalisierungsgesellschaft) – unser Konsum, unsere Sozialsysteme, unsere Renten, unser gesamtes Stabilitätsversprechen hängen davon ab. Doch wir haben übersehen, dass dieses Wachstum einen Preis hatte: Wir erkauften das Wachstum des Finanzkapitals durch ein massives „Degrowth“ der lebendigen Kapitalien.
Herman Daly nannte dies „Uneconomic Growth“ (unökonomisches Wachstum): Der Punkt, an dem jeder weitere Euro an „Wertschöpfung“ in Wahrheit mehr „Schadschöpfung“ verursacht. Wir befinden uns längst in einem Zustand des systemischen Degrowth – nicht in der Wirtschaftsleistung, sondern in der Regenerationsfähigkeit der Systeme, die uns am Leben halten.
Wenn die lebendigen Kapitalien erodieren, degeneriert das System. Es destabilisiert sich selbst, was wir heute an der ökologischen Erschöpfung und an den sozialen Fliehkräften, die unsere Demokratien bedrohen, deutlich spüren. Ein Kollaps ist keine Dystopie, sondern eine logische Konsequenz, wenn wir den Kurs nicht ändern.
Weiterlesen im Essay: Warum der Wirtschaftsnobelpreis 2025 das Ende der alten Fortschrittserzählung markiert
4. Die Antwort: Re:Growth statt Degrowth
Die Alternative zum drohenden Kollaps ist nicht Verzicht oder das pauschale Schrumpfen (Degrowth) eines ohnehin veralteten, extraktiven Paradigmas. Die Antwort lautet Re:Growth: die aktive Entfaltung des regenerativen Potenzials der sechs lebendigen Kapitalien und das daraus entstehende Wachstum an Lebendigkeit.
Wir müssen auf einen ganzheitlichen Wachstumspfad zurückkehren, der die lebendigen Kapitalien nicht verzehrt, sondern stärkt. Re:Growth bedeutet qualitatives Wachstum: Es geht darum, die Kapazität unserer Ökosysteme, unserer Gemeinschaften und unserer Unternehmen, sich selbst zu regenerieren, wieder aufzubauen. Nur so stabilisieren wir das Gesamtsystem und sichern unseren Wohlstand langfristig.
Weiterlesen im Essay: Von Deindustrialisierung zu Reindustrialisierung, von De-Growth zu Re-Growth
5. Der Kompass für die neue S-Kurve: Die 8 Thesen
Doch ein Narrativ benötigt Prinzipien, an denen es sich orientieren kann. Im Herbst haben wir daher eine aktualisierte Version der Die 8 Thesen einer Regenerativen Marktwirtschaft veröffentlicht. Sie markieren den entscheidenden Wendepunkt: Die alte S-Kurve der fossilen Optimierung flacht ab, jeder weitere Gewinn kostet mehr Kraft. Es ist Zeit, auf die neue S-Kurve der Regeneration zu wechseln. Um diese transformative Epoche erfolgreich zu navigieren, benötigen wir Leitprinzipien. Sie bilden das Fundament für eine plurale, kohärente und unternehmerische Gestaltung – und ermöglichen das notwendige Lernen im Tun.
Diese 8 Thesen dienen uns als Kompass: Sie reichen von der Enkelfähigkeit (These 1) – der Erkenntnis, dass ein gedeihliches Leben nur gesichert ist, wenn zukünftige Generationen profitieren – über den Schutz der Biodiversität als stiller Infrastruktur (These 2) , bis hin zu einem neuen Verständnis von Wohlstand (These 7). Ein Wohlstand, der nicht Wohlstand zerstört, sondern als Feld der Potenzialentfaltung für alle dient.

Diese Thesen sind keine theoretische Übung. Sie sind die Einladung, nicht den Epilog des Alten zu verwalten, sondern das erste Kapitel des Neuen zu schreiben.
Weiterlesen im Essay: Die 8 Thesen einer Regenerativen Marktwirtschaft
6. Regeneratives Unternehmertum und kompostiertes Kapital
Hier kommt das Regenerative Unternehmertum ins Spiel. Es ist der Agent dieser Transformation. Regenerative Unternehmer:innen streben danach, durch ihr wirtschaftliches Handeln die Potenzialentfaltung in den sechs lebendigen Kapitalien zu ermöglichen.
Dabei bekommt das Finanzkapital eine neue, entscheidende Rolle: Die Kompostierung von Geld.
Wie mein Vorstandskollege Thomas Schindler es geprägt hat und wie wir es in unseren Essays vertieft haben: Geld ist eine Optionalität. Wir entscheiden, wo wir es wirksam machen. Wenn wir Finanzkapital nutzen, um regenerative Kapazitäten aufzubauen, betreiben wir keine „Wohltätigkeit“. Wir betreiben Risikovorsorge und Zukunftsgestaltung.
Wir investieren Geld zurück in das Leben („Kompostieren“), damit neuer, fruchtbarer Boden entsteht – für Innovation, für Resilienz und für echte Enkelfähigkeit.
Weiterlesen im Essay: Kompostiertes Kapital – Vom Wesen des Lebendigen in der Wirtschaft
6. Von Deindustrialisierung zu Re-Industrialisierung
Re-Industrialisierung bedeutet für uns die fundamentale Abkehr von der drohenden Deindustrialisierung hin zu einem bewussten Umbau unserer industriellen Basis. Diese Erkenntnis verdichtete sich 2024 besonders beim 14. Regenerativen Salon in Bielefeld, den wir gemeinsam mit der OWL Maschinenbau ausgerichtet haben. Dort wurde deutlich: Wir brauchen keine Abwicklung, sondern eine Re-Industrialisierung.
Bericht zum 14. Regenerativen Salon: Rückblick auf den 14. Regenerativen Salon Bielefeld
Damit gehen wir weit über Konzepte wie den ethischen Kapitalismus hinaus. Während dieser primär an die Moral der Akteure appelliert, um die „Nebenwirkungen“ eines falschen Systems abzumildern, setzen wir tiefer an: Wir verändern die Struktur der Wertschöpfung selbst. Es reicht nicht, im Falschen das Gute zu wollen. Wir müssen Strukturen schaffen, in denen das Richtige auch das Ökonomische ist.
Weiterlesen im Essay: Vom ethischen Kapitalismus zum regenerativen Unternehmertum
Unser Ziel ist ein post-fossiler Industrialismus, der Wirtschaft nicht als Maschine, sondern als lebendigen Metabolismus begreift. In der Natur gibt es keine Externalisierung, keinen Abfall – nur Nährstoffe. Genau diese Logik übertragen wir auf die Fabrikhalle: Stoffkreisläufe werden konsequent geschlossen, sodass kein „Müll“ entsteht, sondern Rohstoff für den nächsten Zyklus. CO2 ist in dieser Betrachtung nicht per se das Problem, sondern die Menge, die die sequestrierenden Kapazitäten des Planeten übersteigt.
Hier liegt die enorme Chance für den Standort Deutschland: Im Zusammenspiel von Maschinen- und Anlagenbau mit einer sich fundamental wandelnden chemischen Industrie. Es geht um nichts Geringeres als die Abkehr von der fossilen Kohlenwasserstoff-Chemie hin zu regenerativen Grundlagentechnologien. Wir sprechen hier von der industriellen Skalierung biologischer Prozesse – das Arbeiten mit Mikroben, Enzymen und Myzel, um neue Werkstoffe zu züchten, statt sie fossil zu fördern. Das ist die Basis einer neuen Materialökonomie, für die wir das notwendige Know-how zur Entwicklung und Industrialisierung bereits besitzen. Wir müssen es nur durch eine regenerative Industriestrategie gezielt zur Anwendung bringen.
Lebendige Beispiele für diesen Aufbruch sind Unternehmen wie die Carbonauten, die mit ihren Minus-CO2-Materialien industrielle Grundstoffe revolutionieren, sowie Pionierinnen wie Sandra Lambertz (CEO MionTec, Gründerin MIONPLANT). Ihr Ansatz zielt auf den Kern der Kreislaufschließung: die Trennung des Trägermittels Wasser von den Rohstoffen. Anstatt prozessbedingte Inhaltsstoffe als Abwasser zu entsorgen, werden Wasser und Wertstoffe sauber separiert und im System gehalten. Sie zeigt damit exemplarisch, wie technologische Exzellenz und regenerative Verantwortung konkret in Geschäftsmodellen wirksam werden.
Wir streben damit kein pauschales Schrumpfen an, sondern ein qualitatives „Re-Growth“ – ein Wachstum an Resilienz, Vielfalt und regenerativer Kapazität. Deutschland hat so die Chance, sich nicht abzuwickeln, sondern als globaler Fertigungsstandort und Technologielieferant neu zu erfinden. Doch dafür müssen wir das Innovator’s Dilemma, in dem wir stecken, mit Mut und Haltung überwinden. Darauf zu warten, dass die Politik diesen radikalen Schritt vorangeht, ist vergeblich – sie bleibt oft in der Verwaltung des Status quo verhaftet. Dieser Aufbruch kann daher nur durch eine regenerative Renaissance des Unternehmertums und der Wissenschaft in Deutschland gelingen.
Highlights 2024: Vom Denken ins Erleben
Dieses Narrativ haben wir 2024 nicht nur theoretisch entwickelt, sondern erlebt und verprobt:
In Witten: Wo wir sahen, dass Familienunternehmen prädestiniert sind für diese Transformation, weil sie in Generationen denken.
In Münster: Wo der lokale Austausch zeigte, wie groß der Bedarf an neuen Perspektiven im Mittelstand ist.
Auf Gut Haidehof: Unser absolutes Highlight, die 1. 24h Unconference. Initiiert von Susanne Preiss und gemeinsam kuratiert mit Julia Ledermann und mir war dies kein Konferenzformat, sondern ein Erfahrungsraum. Zwischen Kompost und Dialog wurde spürbar, was Regeneration bedeutet.
Das „Unconference Buch“ als PDF.
Bericht zu 1. 24h Unconference: Handle mutig mit Haltung – 24 Stunden gelebte Zukunft auf dem Haidehof
Ausblick 2026: Strategie und nächste Schritte
Wir ruhen uns nicht aus. Mit der Strategie 2028 haben wir einen klaren Pfad für die kommenden Jahre entworfen, den wir in den nächsten Wochen gemeinsam mit unserem Vorstand und den Förderpaten finalisieren werden.
Unser Fokus liegt auf der lokalen Verankerung: Wir werden das erfolgreiche Format der Regenerativen Salons ausbauen und zu festen Ankerpunkten in ganz Deutschland verstetigen. Denn Transformation geschieht nicht im Abstrakten, sondern vor Ort – in den Regionen, in den Unternehmen. Wir wollen dort wirksam werden, wo ihr seid, und unsere Gemeinschaft auf mehrere hundert Mitglieder wachsen lassen, um unserer Stimme das nötige Gewicht zu verleihen.
Kommende Termine 2026:
20. Januar 2026: Wir laden euch ein zur „Regenerativen Kalibrierung: Der Neujahrs-Check-in“ (16:00 – 17:30 Uhr, online via Google Meet). Gemeinsam mit Sebastian Fittko und Christina Peters wollen wir das Jahr nicht einfach nur starten, sondern bewusst gestalten: Wir nutzen diesen Raum zum Kennenlernen, Vernetzen und um unsere inneren Kompasse aufeinander abzustimmen. ANMELDEN → https://forms.gle/v9W1Pz6i4YUH9Ks28
20./21. März 2026: Workshop beim 28. Wittener Kongress für Familienunternehmen: Am Praxisbeispiel eines tiefgreifenden Wandels beleuchten wir, wie Unternehmerfamilien im Generationenübergang ihre Identität als Kompass nutzen, um durch regeneratives Unternehmertum Kapital und Verantwortung in neue, zukunftsfähige Gestaltungskraft zu verwandeln.
Unconferenz Berlin: Ein wichtiger Hinweis zur ursprünglich für den 23. Januar geplanten Veranstaltung in Berlin: Diese müssen wir leider in den März verschieben. Den genauen Termin und die Inhalte werden wir hier in Kürze kommunizieren.
Im forum future economy wird in der ersten Ausgabe 2026 eine von uns kuratierte Sonderstrecke „Regeneratives Wirtschaften“ erscheinen. Darüber hinaus werde ich hier regelmäßig Kommentare aus Perspektive der Regenerativen Wirtschaft veröffentlichen
Ein Aufruf zum Handeln
Die Ära der Extraktion geht zu Ende. Die transformative Epoche hat begonnen. Wie disruptiv dieser Übergang wird und wohin wir transformieren, liegt an uns. Wenn wir ihn aktiv gestalten, können wir eine neue Wachstumserzählung schreiben, die alle Kapitalien wachsen lässt.
Wir konnten 2024 zahlreiche neue Förderpaten gewinnen, die der IRM mit Rat, Tat und Netzwerk zur Seite stehen. Ihr legt das finanzielle Fundament für unsere Arbeit. Dafür danke ich euch von Herzen. Du möchtest mehr erfahren, dann schreibe mir.
Doch wir haben noch viel vor. Um unsere Wirkung im kommenden Jahr zu vervielfältigen und diese Erzählung in die Breite zu tragen, brauchen wir deine Unterstützung.
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Danke!
Ein besonderer Dank gilt jenen, die diesen Weg in 2024 so maßgeblich mitgestaltet und ermöglicht haben: Susanne Preiss, Florian Weischer, Konrad Fröhlich, Konrad Wenzel, Anna und Diana Wessling, Patricia Lobinger, Julia Ledermann, Marc Letzing, Henning Reiche, Fritz Lietsch, Kai Platz, Diana Krüger und Christina Peters.
Lasst uns 2025 und 2026 gemeinsam daran arbeiten, dass aus dem Re:Growth der Ideen ein Re:Growth der Wirklichkeit wird.
Regenerative Grüße und eine regenerative Zeit gemeinsam mit Euren Lieben.
Der Vorstand der Initiative Regenerative Marktwirtschaft e.V.
Sebastian Fittko, Thomas Schindler, Gregor Erkel









