Raus aus der Blase rein in den regenerative Frühschoppen
Ein neues Format für den Dialog über nachhaltiges und regeneratives Wirtschaften
Wie kommen wir aus unserer Blase heraus?
Wer sich mit nachhaltigem oder regenerativem Wirtschaften beschäftigt, kennt das Phänomen: Man spricht häufig mit Gleichgesinnten. Es gibt intensive Diskussionen über Konzepte wie Planetary Boundaries, CO2-Bilanzen oder Kreislaufwirtschaft, aber diese Gespräche bleiben oft in einer Blase aus Fachleuten, Aktivisten und Interessierten. Doch wie schaffen wir es, diese Themen in die Breite zu tragen – zu Menschen, die sich vielleicht weniger mit Theorie, aber umso mehr mit der Praxis des Lebens und Arbeitens beschäftigen?
Mit dem Regenerativen Frühschoppen haben wir ein Format entwickelt, das genau diesen Brückenschlag wagt. In Zusammenarbeit mit dem Silicon Vilstal Festival konnten wir, Gregor Erkel und Sebastian Fittko, unser Konzept erstmals in Vilsbiburg, Niederbayern, testen. Das Ziel war klar: Ein offener, bodenständiger Austausch über regeneratives Wirtschaften und nachhaltige Lebensweisen – außerhalb unserer Blase. Dank Dir, Helmut Ramsauer, für diese wunderbare Gelegenheit!
Das Konzept des Regenerativen Frühschoppens
Das Besondere an diesem Format: Wir sprechen nicht über abstrakte Nachhaltigkeitsmodelle. Stattdessen beginnen wir mit einer einfachen, aber tiefgreifenden Frage: Was bedeutet für dich ein gutes Leben? Jeder Teilnehmende stellt sich vor und erklärt, was für ihn oder sie persönlich ein gutes Leben ausmacht. Diese Frage öffnet den Raum für individuelle Perspektiven und lässt uns die Menschen auf einer tieferen Ebene kennenlernen. Der Vorteil? Wir erreichen eine ganz andere Gesprächsdynamik – weg von der Theorie, hin zu den Bedürfnissen und Wünschen der Menschen.
Schritt 1: Der persönliche Zugang zum guten Leben
In Vilsbiburg zeigte sich schnell, dass der Begriff „gutes Leben“ für jede*n etwas anderes bedeutet. Die Antworten reichten von „Zeit mit der Familie“ über „gesundes Essen“ bis hin zu „persönliche Weiterentwicklung“. Auf dieser Basis konnten wir erkennen, welche Werte und Prioritäten für die Teilnehmenden wirklich im Vordergrund stehen. Anstatt mit vorgefertigten Konzepten zu arbeiten, haben wir die Vielfalt der Ansichten geclustert und reflektiert.
Schritt 2: Die Acht Kapitalformen
Im zweiten Schritt des Workshops führten wir die Teilnehmenden in das Konzept der acht Kapitalformen ein. Diese systemische Perspektive basiert auf den Ideen von Pierre Bourdieu und wurde durch die Arbeiten von Ethan Soloviev weiterentwickelt. Sie dient dazu, ein umfassenderes Verständnis von Wohlstand und Ressourcen zu schaffen, das weit über finanzielle Aspekte hinausgeht. Jede Form von Kapital trägt auf ihre Weise zum Wohlstand und zur Lebensqualität in einer Gemeinschaft bei. Hier eine detaillierte Beschreibung der acht Kapitalformen:
1. Soziales Kapital
Das soziale Kapital beschreibt die Netzwerke, Beziehungen und den Zusammenhalt innerhalb einer Gemeinschaft. Es umfasst das gegenseitige Vertrauen, die Unterstützung und den Austausch von Informationen, die die Gemeinschaft stärken. Soziales Kapital zeigt sich in Freundschaften, familiären Bindungen, beruflichen Netzwerken und in der Art, wie Menschen zusammenarbeiten und füreinander da sind. Es ist die Grundlage für Kooperation und Gemeinschaftssinn.
2. Intellektuelles Kapital
Intellektuelles Kapital umfasst Wissen, Innovation und die Fähigkeit, Probleme zu lösen. Es geht darum, wie gut eine Gemeinschaft informiert ist, wie sie auf Herausforderungen reagiert und wie leicht Wissen und Ideen weitergegeben werden. Hierzu gehören Bildungseinrichtungen, Forschung, aber auch das alltägliche Know-how, das Menschen in ihren Berufen oder im Alltag einsetzen. Intellektuelles Kapital ist entscheidend für den Fortschritt und die Innovationskraft einer Region.
3. Materielles Kapital
Materielles Kapital bezieht sich auf physische Ressourcen wie Infrastruktur, Gebäude, Werkzeuge und Technologien, die in einer Gemeinschaft vorhanden sind. Dies umfasst alles, was physisch greifbar ist – von Straßen und Brücken über Produktionsanlagen bis hin zu digitalen Infrastrukturen. Materielles Kapital bildet die Basis für wirtschaftliche Aktivität und ist oft das, was im traditionellen Verständnis von Kapital am meisten betont wird.
4. Kulturelles Kapital
Kulturelles Kapital umfasst die Traditionen, Werte und kulturellen Praktiken, die in einer Gemeinschaft gelebt und geschätzt werden. Es spiegelt sich in der Kunst, Musik, Literatur und den Bräuchen wider, die von Generation zu Generation weitergegeben werden. Kulturelles Kapital schafft Identität, gibt Orientierung und stärkt das Gefühl der Zugehörigkeit innerhalb der Gemeinschaft. Es ist das Fundament, auf dem der soziale Zusammenhalt ruht.
5. Spirituelles Kapital
Spirituelles Kapital bezieht sich auf die Werte, Überzeugungen und spirituellen Praktiken, die dem Leben Sinn und Orientierung geben. Es ist der Ausdruck dessen, was Menschen als „höheren Zweck“ oder Verbindung zu etwas Größerem empfinden – sei es Religion, Natur oder Philosophie. Spirituelles Kapital fördert Resilienz, indem es den Menschen eine tiefere, sinnstiftende Perspektive auf ihr Leben und Handeln ermöglicht.
6. Ökologisches Kapital
Ökologisches Kapital umfasst die natürlichen Ressourcen und lebendigen Systeme wie Pflanzen, Tiere, Böden, Wasser und Luft, die das Leben auf der Erde ermöglichen. Ohne ein gesundes ökologisches Kapital – fruchtbare Böden, sauberes Wasser, intakte Wälder und Biodiversität – kann keine Gesellschaft nachhaltig bestehen. Ökologisches Kapital ist die Grundlage allen Lebens und Wirtschaftens, da es die Ressourcen bereitstellt, auf denen alle anderen Kapitalformen aufbauen.
7. Erfahrungswissen
Erfahrungswissen bezieht sich auf die praktischen Fähigkeiten, das handwerkliche Geschick und die Talente, die Menschen durch ihre Arbeit und Erfahrungen im Laufe ihres Lebens erworben haben. Es ist das unschätzbare Know-how, das Menschen durch Erfahrung sammeln – sei es im Handwerk, in der Landwirtschaft, im Unternehmertum oder im Alltag. Erfahrungswissen ist oft implizit und wird durch Übung und Weitergabe erworben.
8. Finanzielles Kapital
Finanzielles Kapital bezieht sich auf Geld, Vermögenswerte und Investitionen, die einer Person oder Gemeinschaft zur Verfügung stehen. Während finanzielles Kapital oft im Mittelpunkt wirtschaftlicher Betrachtungen steht, zeigt das Modell der acht Kapitalformen, dass es nur eine von vielen Ressourcen ist, die zum Wohlstand beitragen. Dennoch spielt es eine wichtige Rolle, um andere Kapitalformen zu entwickeln und zu unterstützen.Jeder Teilnehmerin erhielt die Aufgabe, das eigene Kapital in diesen Bereichen zu bewerten und auf einem Kreis zu visualisieren. Dieser Schritt brachte einige spannende Erkenntnisse. Viele stellten fest, dass sie in bestimmten Bereichen reich an Ressourcen waren, aber in anderen nur begrenzte Mittel hatten. Besonders auffällig: Soziales Kapital, also Beziehungen und Netzwerke, wurde von den meisten als ihre stärkste Ressource eingeschätzt, während materielles Kapital (Geld und Besitz) überraschend wenig Gewicht hatte.
Schritt 3: Bedeutung der Kapitalformen für die Region
Der dritte und letzte Schritt des Workshops fokussierte sich auf die Region selbst: Was braucht Vilsbiburg, um sich zukunftsfähig und lebenswert zu entwickeln? Auf einem großen Kreis, der in die acht Kapitalformen unterteilt war, sollten die Teilnehmenden drei Striche verteilen, um die bedeutendsten Formen für die Entwicklung der Region zu markieren. Das Ergebnis war eindeutig: Soziales Kapital wurde fast doppelt so oft genannt wie die zweithäufigste Form, während materielles Kapital keine einzige Stimme bekam.
Diese Resultate zeigen deutlich, dass Menschen sich stark auf Beziehungen, Gemeinschaft und kulturelle Werte verlassen, wenn es um ihre Lebensqualität und die Zukunft ihrer Region geht. Das lässt uns erkennen, wie wichtig es ist, in der wirtschaftlichen Entwicklung einer Region diese „weichen“ Faktoren stärker zu berücksichtigen.
Die Erkenntnisse des Workshops
Was haben wir aus diesem ersten Regenerativen Frühschoppen gelernt?
1. Dialog statt Belehrung: Statt mit fertigen Konzepten aufzuwarten, lassen wir die Menschen ihre eigenen Werte und Vorstellungen in den Mittelpunkt stellen. Das schafft einen viel offeneren und ehrlicheren Austausch.
2. Kapital ist mehr als Geld: Besonders die Verteilung der Kapitalformen hat gezeigt, dass Geld und materielle Werte in den Augen der Teilnehmenden keine zentrale Rolle spielen, wenn es um die Frage nach dem guten Leben geht. Soziales und intellektuelles Kapital waren weit wichtiger.
3. Nachhaltigkeit braucht soziale Grundlagen: Unsere Gesellschaft ist noch zu stark auf materielle Werte fokussiert. Der Workshop hat uns gezeigt, dass die Menschen viel mehr Wert auf soziale und kulturelle Ressourcen legen. Diese müssen auch in der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung eine größere Rolle spielen, wenn wir eine regenerative Zukunft gestalten wollen.
Ein Format mit Zukunft
Der erste Regenerative Frühschoppen war ein voller Erfolg. Nicht nur, weil wir wertvolle Einblicke in die Gedanken und Bedürfnisse der Teilnehmenden gewinnen konnten, sondern auch, weil das Format als solches funktioniert hat. Ein offenes Gespräch über Nachhaltigkeit, das jenseits von Fachsprache und Theorie ansetzt – das wollen wir nun weiterentwickeln und in anderen Regionen und Kontexten anwenden.
Wir sind überzeugt, dass dieses Format eine neue Art des Dialogs über nachhaltiges und regeneratives Wirtschaften ermöglichen kann. Es schafft Raum für echte, persönliche Reflexionen und zeigt auf, dass wirtschaftlicher und sozialer Wandel nicht von oben verordnet, sondern gemeinsam gestaltet werden muss.
Wie geht es weiter?
Unsere Vision ist es, den Regenerativen Frühschoppen in weiteren Regionen und mit verschiedenen Zielgruppen zu etablieren. Ob in ländlichen Gemeinden oder in städtischen Kontexten – überall gibt es Menschen, die sich mit der Frage nach dem guten Leben beschäftigen und bereit sind, sich auf neue Denkweisen einzulassen. Der Schlüssel ist der offene Dialog und die gemeinsame Reflexion darüber, was uns wirklich wichtig ist.
Wir freuen uns auf den nächsten Frühschoppen – und darauf, weiter Brücken zu bauen zwischen Theorie und Praxis, zwischen Nachhaltigkeitsdiskursen und den realen Bedürfnissen der Menschen.
Formatbeschreibung: Der Regenerative Frühschoppen
Ziel: Der Regenerative Frühschoppen bietet einen offenen Raum für den Dialog über nachhaltiges und regeneratives Wirtschaften, mit einem Fokus auf die persönlichen Vorstellungen der Teilnehmenden zum guten Leben.
Ablauf:
1. Begrüßung und Einführung: Vorstellung des Formats und der Teilnehmenden.
2. Erste Frage: Was bedeutet für dich ein gutes Leben? – Die Teilnehmenden teilen ihre persönlichen Ansichten.
3. Einführung in die Acht Kapitalformen: Soziales, intellektuelles, materielles, kulturelles, spirituelles, ökologisches Kapital, Erfahrungswissen und finanzielle Ressourcen.
4. Kapitalverteilung: Die Teilnehmenden bewerten, wie sie ihre eigenen Ressourcen auf diese Kapitalformen verteilen.
5. Reflexion und Diskussion: Austausch über die Bedeutung der Kapitalformen für das persönliche und gesellschaftliche Leben.
6. Kapital für die Region: Die Teilnehmenden benennen, welche Kapitalformen für die Entwicklung ihrer Region am wichtigsten sind.
7. Gemeinsame Reflexion und Abschluss: Diskussion der Ergebnisse und Ausblick.
Zielgruppe: Alle
Dauer: 2 Stunden
Einsatzgebiete: Lokale Communities, regionale Netzwerke, Festivals und Veranstaltungen, die einen offenen Dialog über zukunftsfähiges Wirtschaften suchen.
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Sehr spannender Ansatz, der Vieles abdeckt, was mir seit langem durch den Kopf geht! Bitte mehr davon!