von Sebastian Fittko
„Die Zukunft ist nicht zu planen – aber sie will gepflegt werden.“
– Hannes Höhne, Haidehof
Im letzten Essay haben wir das Bild des kompostierten Kapitals entwickelt – eine Idee, die den Abschied von linearer Verwertung und die Hinwendung zu zyklischer Regeneration markiert. Es ging um einen Perspektivwechsel, der Kapital nicht länger als Mittel zur Akkumulation Geld, sondern als Nährstoff für zukünftige Fruchtbarkeit versteht. Doch wie entsteht ein solcher Prozess? Was ist der Boden, auf dem diese Transformation überhaupt wachsen kann?
Die Antwort liegt tiefer, als die meisten Change-Programme reichen. Nicht in der Strategie. Nicht in der Struktur. Sondern in der Haltung.
In einer Zeit, in der das Gefühl kollektiver Erschöpfung und Unsicherheit allgegenwärtig ist – bei den Führungskräften, in den Teams, in den Systemen selbst –, wird diese Haltung zur entscheidenden Energiequelle. Die eigentliche Ressource regenerativer Organisationen ist nicht ihr Innovationsgrad, sondern das, was zwischen den Menschen wirkt. Was unausgesprochen mitschwingt. Und oft erst im Umgang mit Krisen oder in Momenten der Stille sichtbar wird.
Es ist das, was sich nicht planen lässt, sondern nur pflegen.
Haltung ist kein Ziel.
Sie ist der Humus, in dem das Neue wurzelt.
Der Haidehof als gelebter Resonanzraum
Es gibt Orte, deren Haltung man nicht erklären muss, weil man sie spürt. Der Haidehof bei Hamburg ist so ein Ort. Wer ihn betritt, sucht vergeblich nach den Insignien konventioneller Landwirtschaft. Stattdessen entfaltet sich ein lebendiges Mosaik: kleine Felder mit über 160 Gemüse- und Kräutersorten, Hecken, ganzheitlich weidende Kühe, Hühner, die frei zwischen den Fladen scharren – alles eingebettet in eine Stille, die fast andächtig wirkt.
Der Hof ist weniger ein landwirtschaftliches Projekt als ein gelebter Resonanzraum. Für Erde. Für Arbeit. Für Beziehung und Verantwortung.
Hannes, einer der Gründer und Hüter dieses Ortes, verkörpert diese Haltung. In der NDR Dokumentation über den Haidehof ist sie spürbar – doch ein Moment während meines letzten Besuchs reicht noch tiefer: Hannes steht auf der Weide, bückt sich, nimmt einen frischen Kuhfladen in die Hand und riecht daran. Was für viele nach Abfall aussieht, ist für ihn ein Informationsspeicher. Er riecht die Gesundheit des Bodens, die Qualität des Futters, den Zustand des Mikrobioms. Es ist ein Akt radikaler Erdung – eine unmittelbare, sinnliche Verbindung zum Kreislauf von Leben und Energie.
Dieser Kontakt ist nicht Symbol, sondern Methode. Hannes spricht nicht über Ertragsmaximierung im klassischen Sinne, sondern über die Steigerung der Flächenproduktivität – und die Verdichtung von Leben im Boden. Das Ziel ist nicht eine dominante Feldfrucht, sondern Vielfalt. Nicht eine Ernte pro Jahr, sondern viele. Der Schlüssel: keine Brachflächen, keine bloße Erde. Stattdessen ganzjährig grüne Felder, die über Photosynthese möglichst viel Sonnenenergie aufnehmen und in lebendige Substanz verwandeln.
Es ist eine andere Form von Wachstum – eine Art Compounding Growth für das Ökosystem. Kein Raubbau, der durch fossile Inputs kompensiert werden muss, sondern ein kontinuierlicher Aufbau von Leben und Energie.
Hannes erklärt keine Prozesse. Er hört auf den Ort. Und handelt danach. Sein vielleicht wichtigster Satz bringt es auf den Punkt:
„Es geht nicht darum, was wir machen, sondern wie wir da sind.“
Beziehung als Praxisform von Verantwortung
Doch wie lässt sich diese Haltung in die oft so erdfernen Welten unserer Organisationen übersetzen? Gerade dort, wo der ständige Druck zur Kontrolle und Optimierung zum Energiefresser wird – und Führungskräfte wie Teams gleichermaßen auslaugt?
Eine Antwort darauf fand ich in der Arbeit von Susanne Preiss und Christine Ziegelmayer. Letzte Woche war ich zu Gast bei ihrem Einführungsworkshop „How to become a regenerative changemaker“, Teil ihres Programms deep_3. Kein vollgepackter Zeitplan, keine PowerPoint-Schlacht, nicht eine einzige Folie.
Stattdessen: Raum für das, was sonst oft zu kurz kommt. Für Beobachtung. Für offenes Zuhören. Für das, was im Raum geschieht – und was sich im Gegenüber zeigt, wenn man sich nicht sofort in Reaktion oder Lösung flüchtet.
Es ging nicht um Methoden oder Übungen, sondern um einen Wechsel der Perspektive. Um die bewusste Entscheidung, nicht gleich zu handeln, sondern erst einmal wahrzunehmen. Nicht zu intervenieren, sondern zu beobachten. Und genau darin liegt eine Kraft, die in vielen Organisationen verloren gegangen ist: die Fähigkeit, mit dem auszuhalten, was ist – bevor man es verändert.
Die „3“ im Programmnamen steht für die drei Ebenen der Regeneration: das Individuum, das Team und die gesamte Organisation. Der Ansatz von Susanne und Christine geht nicht an Symptomen entlang, sondern in die Tiefe – dorthin, wo Haltung entsteht. Es geht darum, die Qualität von Präsenz zu erhöhen: nicht durch Tools, sondern durch den Ton. Nicht durch Kontrolle, sondern durch Ko-Regeneration – also die gegenseitige Stärkung im Miteinander.
Verantwortung wird hier neu verstanden: nicht als Steuerung von oben, sondern als Beziehungspflege in die Tiefe.
Finanzielles Kapital als Katalysator für regenerative Potenzialentfaltung
In einem regenerativen System verändert sich unser Verständnis von Kapital grundlegend. Es ist nicht länger eine Ressource, die extrahiert und maximiert wird, sondern ein lebendiger Fluss – Träger von Energie, Möglichkeit und Verantwortung.
Man denke an die Natur: Die Sonne liefert Energie, Pflanzen wandeln sie durch Photosynthese in Lebenskraft um. Diese nährt das Bodenleben, schafft Fruchtbarkeit und ermöglicht weiteres Wachstum. Ein Kreislauf, der sich selbst verstärkt – nicht durch Effizienz, sondern durch Beziehungsdichte.
Ähnlich verhält es sich in Organisationen. Echte Energie entsteht nicht durch Druck, sondern durch Resonanz. Sie wächst in der Qualität von Beziehungen (soziales Kapital), in der Ausrichtung auf einen tieferen Sinn (spirituelles Kapital), in einem Umfeld von Vertrauen und psychologischer Sicherheit (kulturelles Kapital). Wo diese Bedingungen erfüllt sind, kann individuelles Potenzial zur Entfaltung kommen: Wissen, Intuition, Erfahrung – das Erfahrungs- und intellektuelle Kapital.
Regenerative Organisationen schaffen ein Milieu, in dem Energie nicht abgesaugt, sondern freigesetzt wird. In dem sie zirkuliert, sich verbindet, verdichtet.
Das finanzielle Kapital spielt in diesem Prozess eine entscheidende Rolle – aber nicht als Zweck, sondern als Katalysator. Es ermöglicht, was wachsen will. Es beschleunigt, was in Beziehung treten kann. Und es bleibt nicht Selbstzweck, sondern wird Mittel zur Pflege von Lebendigkeit.
Die Unternehmerfamilie als Keimzelle der Pflege
Für mich entfalten diese Prinzipien eine besondere Kraft im innersten Kern vieler Organisationen: in der Unternehmerfamilie. Hier sind Risiko, Eigentum und biografisches Schicksal nicht getrennt, sondern miteinander verwoben. In den Beziehungen der Menschen – zwischen Generationen, Geschwistern, Eltern und Kindern – verbinden sich Kapital, Kultur und Kontinuität auf eine Weise, die kein Organigramm je abbilden könnte.
Die Familie wird so zum Ort höchster Dichte: von Verantwortung, Identität und langfristigem Denken. Hier sind die verschiedenen Kapitalformen nicht nur sichtbar, sondern spürbar. Und ebenso die Reibungen zwischen ihnen. Denn nirgendwo sonst entstehen so viele Energieräume – und zugleich so viele Energieverluste.
Gerade in Zeiten des Wandels, sei es durch äußere Krisen oder innere Übergänge, etwa einen Generationswechsel, zeigt sich, ob eine Haltung trägt. Der reflexhafte Griff zur Reorganisation – alles umpflügen, neu strukturieren, Prozesse neu aufsetzen – mag naheliegend erscheinen, verfehlt aber oft den eigentlichen Hebel: das gewachsene Netz aus Beziehungen, Erfahrungen, kulturellen Mustern. Es ist das stille Bodenleben der Organisation.
Ein regenerativer Ansatz geht anders vor. Er respektiert das Gewachsene, auch wenn es widersprüchlich ist. Doch er romantisiert es nicht. Er sucht nicht nach Stabilität um ihrer selbst willen, sondern nach Anschlussfähigkeit inmitten von Komplexität, Unsicherheit und Mehrdeutigkeit.
Es geht nicht darum, alles beim Alten zu belassen – sondern darum, das Bestehende so zu belüften, dass Veränderung möglich wird. Regeneration bedeutet nicht Erneuerung durch Ersatz, sondern durch Wiederverbindung: mit dem, was trägt, und dem, was wachsen will.
Gerade Unternehmerfamilien tragen dafür ein besonderes Potenzial in sich. Ihre Beziehungen sind oft belastet, aber ebenso tief verwurzelt. Ihr Blick reicht weiter als die nächste Quartalszahl. Ihr Kapital ist nicht nur finanziell, sondern auch sozial, kulturell und emotional.
Wenn sie diesen Reichtum pflegen, entfalten sie eine Veränderungskraft, die über viele andere Organisationsformen hinausgeht. Nicht als starres System, sondern als lebendiger Organismus. Wie auf einem Hof, auf dem Kompost nicht Müll, sondern Grundlage ist. Und in dem das Zusammenspiel des Lebendigen mehr hervorbringt als jede isolierte Maßnahme.
Darin liegt eine schöpferische Kraft, die über reines Bewahren hinausgeht. Eine Kraft, die ich als regeneratives Unternehmertum verstehe: die Fähigkeit, aus Verantwortung heraus Bedingungen zu gestalten, in denen neues Leben entstehen kann – in der Organisation, im Umfeld, in der Gesellschaft.
Vom Kompost zur Kultur
Am Ende führt der Weg der Regeneration immer zurück zur Kultur. Nicht zur „Corporate Culture“ als Marketingfloskel, sondern zur gelebten Realität im Alltag: Wie arbeiten wir miteinander? Wie sprechen wir? Wie streiten wir? Ist Raum für das Lebendige – oder nur für das Funktionierende?
Kultur ist das, was bleibt, wenn die Programme vorbei sind. Sie zeigt sich nicht in Statements, sondern in Atmosphären. In der Art, wie wir uns begegnen – in Meetings, in Pausen, in Übergängen. In dem, was nicht geplant ist, aber wirkt.
Der Haidehof. Die Arbeit von Hannes, Susanne und Christine. Die vorsichtigen, oft leisen Schritte vieler Unternehmerfamilien: Sie alle zeigen, dass eine andere Form des Wirtschaftens längst möglich ist – eine, die Energie nicht entzieht, sondern zurückführt. Eine, in der Haltung nicht Meinung bedeutet, sondern Daseinsform.
Es geht nicht darum, was wir machen.
Es geht darum, wie wir da sind.
Vielleicht ist das der Anfang. Vielleicht ist das schon alles.
Regenerative Grüße und eine wunderbare Woche,
Sebastian Fittko
Über den Autor
Sebastian Fittko ist Initiator, Mitgründer und Erster Vorstand der Initiative Regenerative Marktwirtschaft e.V., Gründer von regeneration.PARTNERS sowie Zweiter Vorstand der Bundesverband Impact Investing e.V.
Mit regeneration.PARTNERS begleitet er Unternehmerfamilien und ihre Organisationen dabei, Eigentümerstrategie und Geschäftsmodell im Sinne einer enkelfähigen, regenerativen Wirtschaft weiterzuentwickeln. Sein Fokus liegt an der Schnittstelle von unternehmerischer Verantwortung, gesellschaftlicher Transformation und der Frage, wie Kapital systemisch wirksam allokiert werden kann.
Impact Investing versteht er dabei als Form der Kapital-Kompostierung – nicht als Selbstzweck, sondern als Hebel für regenerative Potenzialentfaltung.
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Man hätte gemeint, all diese Movements von der Permakultur, über das Human Potential Movement , Living Earth Systems, usw. würden einen klare Sprache finden, sich ihre Deutungsfiguren, Theorien von der biodigtialen und Finanz-Industrie nicht einvernehmen bis fladern zu lassen.
Der regenerative Kapitalismus und die damit eingekaufte Rückkehr des Sozialdarwinismus.
Fullerton 2015, längst eingearbeitet in diese Gemeinwohl- und Wellbeing-Economy.
https://capitalinstitute.org/regenerative-capitalism/
Denkste.
Wie wunderbar das funktioniert, völlig ahnungslos zu sein, was am anderen Ende der Transformations-"Bewegung" geschieht.
Es läuft und niemand hält dem entgegen, was 2019 rückwärts in die 2000er Jahre recht klar formuliert worden ist: Das Risiko der Totalisierung, wenn Nachhaltigkeit mit Digitalisierung verschmolzen wird.
Dirk Messmer hat es benannt und hat diesen Track nach 2019 nicht mehr weiterverfolgt und sich, wie so viele andere in den Kultivierungs-Ansatz verschanzt..
https://www.zeit.de/politik/deutschland/2019-04/dirk-messner-wbgu-umweltveraenderungen-digitalisierung-nachhaltigkeit
Die Kapitalisten des 20. Jahrhunderts sind seeeeeeeeeehr zufrieden.
Dass gerade in Deutschland, Österreich und der Schweiz vergessen ist, warum die Fundierung einer digitalen Gesundheitsbürgerschaft problematisch ist, ist fatal.
Mitten aus der Schweiz dank Gesundheitsdiplomatie wurde diese Bürgerschaft schon allen verpasst. https://dthlab.org/wp-content/uploads/2024/05/2024_Digital-Health-Citizenship.pdf