5. THESE: Um im Einklang mit natürlichen Systemen zu leben, muss unser Handeln den Prinzipien komplexer Systeme folgen.
ZIEL: Intuitives Handeln hinterfragen und durch Denken neu erlernen
DIE AUSGANGSLAGE
Der Nobelpreisträger für Wirtschaft des Jahres 2002, Daniel Kahneman, erklärt in seinem Buch “Schnelles Denken, langsames Denken”, wie ungefähr 90 % unserer täglichen Entscheidungen als automatisch ablaufende Denkprozesse vom sogenannten System 1 gefällt werden, dem sehr schnell arbeitenden Teil unseres Gehirns. Ohne System 1 könnte der Mensch weder einen Ball fangen noch rechtzeitig bremsen, wenn der Ball auf die Straße rollt.
Man weiß um diese Zusammenhänge seit den 1970ern, als festgestellt wurde, dass ungefähr 500 Millisekunden zwischen der intuitiven Entscheidung für eine Handlung und der kognitiven Erklärung des Handelns vergehen. Die Evolutionsbiologie liefert eine eindeutige Erklärung dieses Umstandes: Diejenigen unserer Vorfahren, die erst darüber nachdenken mussten, ob der Tiger im Dickicht eine Gefahr darstellt, sind nicht unsere Vorfahren.
Die Sprache der Intuition, des schnellen Handelns, ist das Gefühl. Ein Gefühl vermittelt uns, was zu tun ist, ohne darüber nachdenken zu müssen. Die Heuristiken, derer sich System 1 bedient, um uns die passenden Gefühle zu vermitteln, die unser Überleben garantieren sollen, entwickelten sich über Jahrmillionen.
Dieser unbewussten Urteilsheuristik, dem intuitiven Handeln quasi per Autopilot, stellt Kahnemann das System 2 gegenüber, welches zum Einsatz kommt, sobald eine Situation uns kontrolliertes Denken abverlangt, um durch Abwägen von Tatsachen und des Für und Wider eine Entscheidung zu treffen. Dieses Denksystem nutzt dem Menschen wenig, wenn man vor dem Tiger fliehen muss, ist jedoch unerlässlich für vorausschauendes Handeln im Hinblick auf die Gewährleistung einer lebensfähigen Zukunft.
Für den Umgang mit der Geschwindigkeit der Veränderungen in der heutigen Welt auf globaler Ebene gab es nicht ausreichend Übungsgelegenheiten in der Evolution des Menschen. Daher können wir uns nur noch zum Teil auf unsere Gefühle verlassen. Wir müssen auch bewusst denken, sprich System 2 aktivieren, um unsere Gefühle zu überprüfen und unsere Intuition zu schärfen, um unsere Heuristiken von System 1 aktiv an die neuen Rahmenbedingungen anpassen zu können.
Unser ohnehin energiehungriges Gehirn vermeidet es jedoch mit allen Mitteln, unser kalorienfressendes System 2 zu aktivieren. Denken lohnt nur, wenn es in dem Handeln mündet, das mit den Zielen des Organismus nicht nur übereinstimmt, sondern diese aktiv stärkt. Zudem sind wir in ein globales Geflecht von Systemen eingebettet, deren Verschränkungen und Wechselwirkungen vom Einzelnen nicht zu überblicken sind; demzufolge sind die Folgen einer Handlung selten klar oder vollständig einschätzbar.
DIE VISION
Was aber, wenn WIR schlecht funktionierende Systeme zur zentralen Bedrohung erklären und damit den Tiger ersetzen? Was, wenn WIR mithilfe unseres Systems 2 die Heuristiken unseres Systems 1 so neu schreiben, dass unsere Gefühle ein wichtiges und nützliches Werkzeug im Erkennen von systemischem Fehlverhalten werden? Dies ist die Essenz dessen, was WIR in der Regenerativen Marktwirtschaft unter systemischem Fühlen, Denken und Handeln verstehen.
Dies entspricht den höheren Ebenen der Wachstumshierarchie, wie sie (beispielsweise) der Entwicklungspsychologe Robert Kegan beschreibt. Im Laufe des Erwachsenenlebens können drei Ebenen durchlaufen werden: Auf der ersten Ebene, der des “Self-Governing Mindset”, hat man die gesellschaftlichen Regeln verstanden und verinnerlicht und lebt und agiert nach diesen. Während des darauffolgenden Entwicklungsabschnitts des “Self-Authoring Mindset” stellt das Individuum ebendiese Regeln in Frage, bricht sie mit egoischen Verhaltensmustern und definiert sie für sich neu.
Diese Phase wird abgelöst durch die dritte und letzte, die des “Self-Transforming Mindset”, in der das Individuum die durch das “Self-Authoring Mindset” geformten und angewendeten Heuristiken wiederum neu hinterfragt und verändert. Diese Phase ist gekennzeichnet vom Bedürfnis nach dem Dienst an der Gemeinschaft.
Die Forschung zeigt, dass jeder Mensch sich potenziell durch alle drei Phasen bewegt, sofern sie oder er sich dank einer Fülle an Erfahrungen, die zur Erhöhung der Komplexität des Denkens führen, zur gefestigten Persönlichkeit entwickeln kann.
Die Regenerative Marktwirtschaft setzt auf die Effekte, die durch die Stärkung der persönlichen Entwicklung entstehen, welche für jegliche gesellschaftlichen und politischen Veränderungen verantwortlich sind. Zum Beispiel wurde gegen Ende des 18. Jahrhunderts in den deutschen Gebieten des Heiligen Römischen Reiches spürbar, dass sich nicht zuletzt dank der kürzlich vollzogenen Französischen Revolution etwas Neues, Unbekanntes anbahnte. Dieses Neue sollte sich später und über den Zeitraum von fast 150 Jahren als der Übergang vom Partikularismus zur Bildung des Deutschen Kaiserreiches und im nächsten Schritt als Revolution von Monarchie zur Demokratie erweisen. Angesichts dieser Vorahnung und der gefühlten Notwendigkeit eines gesellschaftlichen Wandels kam in den Salons von Goethe, Schiller und anderen die Frage auf, wie man diese Zeit von Unklarheit und Neuordnung gut bewältigen könne. Beantwortet wurde sie durch die Vision der gefestigten Persönlichkeit, die in der Lage ist, komplexen Problemen handlungsfähig zu begegnen.
Die damaligen Ideen hinsichtlich der Erlangung einer gefestigten Persönlichkeit ähneln unseren modernen Auffassungen. Heute würde man möglicherweise von einem Meditations-Retreat sprechen.
Umgesetzt wurden diese Ideen in Deutschland allerdings nicht, was an den Umwälzungen von 1848 lag. Glücklicherweise lassen sich Ideen nicht so einfach aufhalten, so dass sie zuerst in Dänemark und dann in den restlichen nordischen Ländern verwirklicht wurden, wo sie bis heute praktiziert werden.
Dies ist nur ein historischer Präzedenzfall einer weitreichenden und gezielten Erhöhung der Komplexität des Denkens innerhalb eines relevanten Bevölkerungsanteils, der positive Wirkung auf die Gesellschaft als Ganzes hatte. Er stammt aus dem Land der Dichterinnen und Denkerinnen und es gibt keinen Grund, weshalb WIR ihn an seinem Ursprungsort nicht auch umsetzen können.
In der Anwendung auf eine Regenerative Marktwirtschaft spielt die Fähigkeit, Fühlen in Denken zu überführen und schließlich in kongruentem Handeln münden zu lassen, eine zentrale Rolle. Diese Fähigkeit ist von zentraler Bedeutung in einer Welt, in der diverse, zentrale und miteinander verbundene Entwicklungen sich in ihrer Wirkung auf das Dasein exponentiell entwickeln und so zu einer weitaus unübersichtlicheren und weniger unplanbaren Welt führen, als Menschen sie bisher erlebt haben. Sie erlaubt es uns, als Individuum und als Gruppe in dynamischen, komplexen Systemen handlungsfähig zu bleiben.
Menschen, die mit Komplexität umgehen und ihre Leistung in den Dienst der Allgemeinheit stellen, sind gemeinsam in der Lage, die Bedeutung zwischen den messbaren Datenpunkten unserer Systeme zu ergründen. Nora Bateson nennt diese Verbindungen “Warm Data”. Sie sind meistens nicht messbar, sondern nur fühlbar und nur im Zusammenspiel mit anderen Menschen ergründbar. Der daraus resultierende Diskurs und die persönliche Entwicklung und Entfaltung erlauben den Akteuren der Regenerativen Marktwirtschaft, fortlaufend kluge Entscheidungen in schwierigen Situationen zu treffen.
EIN BEISPIEL
Wie bereits oben erwähnt, gibt es einen historischen Präzedenzfall für das Navigieren einer transformativen und herausfordernden Situation, die mit der heutigen korrespondiert. Obwohl die Idee dem Land der Dichterinnen und Denkerinnen entstammt, konnte sie zu jener Zeit, hauptsächlich aufgrund der gescheiterten Revolution von 1848, in ihrem Geburtsland (nicht einmal experimentell) umgesetzt werden.
Jedoch fand die Idee ihren Weg nach Dänemark, wo 10 % der jungen Bevölkerung die Möglichkeit gegeben wurde, sich über die Welt und sich selbst klar zu werden und von einer starken individuellen Position aus einen Beitrag zur Gesellschaft zu leisten. Von dort wanderte sie in die restlichen nordischen Länder, wo sie auf ähnliche Weise umgesetzt wurde.
Die gesamte Geschichte und ihre Effekte kann im Buch “The Nordic Secret” von Lene Anderson und Tomas Björkman nachgelesen werden.